Zwei Drittel aller Arbeitnehmer sind keine Gewerkschafter. Und immer mehr arbeiten selbständig – weil sie angestellt keine Arbeit mehr finden. Speziell in der Reinigungsbranche wirkt der Ruf nach einem höheren Mindestlohn wie eine Bedrohung. Wie reagiert die Gewerkschaft auf die neuen Arbeitswelten? Wir haben nachgefragt bei vida-Chef Gottfried Winkler.
Text: Christian Wolfsberg, Markus Zwettler
Reinigung Aktuell: Die Republik Österreich droht, gegen die Wand zu fahren, weil wir in den vergangenen Jahren spürbar weniger produktiv geworden sind. Spielt hier nicht die Gewerkschaft neben sehr hohen Sozialstandards eine durchaus unerhebliche Rolle dabei?
Gottfried Winkler: Ich denke nicht, dass eine zu geringe Produktivität die Republik gegen die Wand fahren lässt – wir hatten 2013 die besten Außenhandelswerte überhaupt. Dies spricht für ein nach wie vor sehr gutes Preis-/Leistungs-Verhältnis österreichischer Erzeugnisse.
Und die Mindestsicherung ist per se eingedenk sehr strenger Rahmenbedingungen wohl durchaus zu schultern. Ausufernd sind in diesem Segment auch weniger die Mindestsicherungen per se, sondern jene Differenzbeträge, die etwa zusätzlich zu einer geringen Pension ausbezahlt werden, um auf das Niveau der knapp 800 Euro monatlich zu kommen. Allerdings: Selbst dieser Betrag ist eingedenk hoher Wohnungspreise für ein würdiges Leben wohl kaum ausreichend.
Zu geringe Pensionen resultieren zu einem Gutteil auch aus einem hohen Maß an Teilzeitarbeit. Speziell aus der Reinigungsbranche hören wir indessen immer öfter, dass durchaus nachgefragte Teilzeitkräfte kaum mehr gefunden werden, da durch die Mindestsicherung der Anreiz zur Arbeit weitgehend entfernt wurde. Behindern hier also die „erkämpften“ Sozialsysteme nicht durchaus den Arbeitsmarkt?
Wir hatten 2008 rund 400.000 Teilzeitbeschäftigte in Österreich, heute sind es mehr als eine Million. Die Frage ist: Sind das die Sozialfälle von morgen? Droht hier eine gewaltige Pensionsarmut? Übrigens: Es war nicht der ÖGB, sondern die Bundesregierung, welche die Mindestsicherung eingeführt hat.
Gewehrt hat sich der ÖGB gegen die Mindestsicherung aber auch nicht. Noch einmal: In Deutschland sind zahlreiche Sozial-Transfers gerade einmal halb so hoch wie in Österreich – und zugleich wurden eindeutig mehr Menschen wieder in den Arbeitsmarkt integriert.
Die meisten ausländischen Beschäftigten in Österreich sind deutsche Staatsbürger. Ist es das Renommee der Frau Merkel, ihre Arbeitslosen nach Österreich zu schicken?
Freuen wir uns, dass so viele Deutsche hier arbeiten! Traurig sind wir ja eher darüber, dass mehr als 400.000 keine Arbeit in Österreich finden…
Fakt ist: Wir haben derzeit die höchste Beschäftigungsrate seit dem 2. Weltkrieg. Beschäftigung spielt sich aber generell nicht mehr im Vollzeitmodell ab, sondern findet in vielen Branchen – nicht zuletzt in der Reinigungsbranche – vermehrt in den Tagesrandzeiten statt.
Wenn Arbeit vermehrt in flexiblen Organisations- und Zeitmodellen stattfindet, so lassen wir doch Arbeit flexibler werden! Ihre Kollegen von der Metallerfront wiederholen indessen gebetsmühlenartig ihr „Njet“ dazu…
In den von uns vertretenen Dienstleistungsbranchen – im Verkehr, im Sozialbereich sowie bei den persönlichen Services – ist uns Flexibilität sehr wohl ins Stammbuch geschrieben: In all diesen Bereichen werden Leistungen im 24/7-Modus erbracht.
Sofern ich eine Reinigungskraft und noch kein Gewerkschaftsmitglied bin – warum sollte ich denn ein solches werden?
Weil die vida aufgrund der österreichischen Sozialpartnerschaft der Garant dafür ist, dass bestehende Kollektivverträge weiter entwickelt werden bzw. in jenen Bereichen, wo es noch keinen Kollektivvertrag gibt, ein solcher eingeführt wird.
Was ist so wünschenswert an einem Kollektivvertrag?
Er gibt eine gewisse Sicherheit – gibt es keinen, so werden Sie zu ortsüblichen Preisen entlohnt.
Ich würde also gemeinsam mit Ihnen für höhere als ortsübliche Löhne kämpfen?
Nicht nur, sie würden auch in den Genuss unserer Rechtsunterstützung kommen.
Längst arbeiten indessen nicht mehr alle Arbeitnehmer im Rahmen der von „Sozialpartnern“ ausverhandelten Rahmenbedingungen – anstatt unter dieser „Dunstglocke der Versorgtheit“ zu agieren, versuchen sich Zigtausende als „Ich-AGs“. Wie will sich die vida für diese Menschen einsetzen?
Es stimmt: Die Sozialpartnerschaft wollen heute viele nicht mehr, manche treten sie auch mit Füßen. Sie ist aber nach wie vor zeitgemäß. In Summe sind von den rund 3,4 Mio. Beschäftigten in Österreich etwa 1,2 Mio. bei der Gewerkschaft – zwei Drittel aller Arbeitnehmer nehmen ihre Geschicke bereits heute selbst in die Hand.
Einspruch: Ihre ausverhandelten Kollektivverträge gelten für alle in der jeweiligen Branche – ob ÖGB-Mitglied oder nicht.
Ein Kollektivvertrag bedeutet aber nur eine Mindestanforderung an die Entlohnung und spiegelt nicht den Wettbewerb wider.
Für die 50.000 Reinigungskräfte in Österreich ist eine Entlohnung über dem KV-Vertrag wohl nicht die Regel. Gerechtfertigt wäre sie vor allem dann, wenn talentierte Mitarbeiter nicht nur in der Reinigung, sondern auch in anderen Bereichen des Facility Managements eingesetzt werden können. Das dürfen sie aber sehr oft nicht…
Abseits einiger Kompetenzstreitigkeiten, die durchaus lähmend wirken, glaube ich schon, dass der „Allrounder“ bereits Wirklichkeit ist in der Reinigungsbranche, hier ist längst sehr viel technisches Know-how erforderlich.
Wie ist es nun aber mit den „Ich-AGs“?
Die EU-Kommission will die Gründung einer GmbH für einen Euro ermöglichen – dann wird es für die Ich-AGs wieder etwas leichter…
Geschützte Angestellte versus vogelfreie Sub-Sub-Subunternehmer für ortsübliche Preise – klafft die Diskrepanz zwischen diesen beiden Gruppen nicht immer mehr auseinander? Wer solidarisiert sich mit den „Sub’s“?
Jede Maßnahme, die hilft, die „Vogelfreien“ auch in das Sozialpartnersystem zu bringen, ist zu begrüßen. Allerdings: Ein solidarischer Lohnverzicht all jener, die im System sind, für jene, die außerhalb stehen, kommt in der Regel nicht dort an, wo er gewünscht wäre. Generell führen Vogelfreiheit und ortsüblicher Preis zu Sozial- und Lohndumping, bringen in Summe das gesamt Lohn- und Sozialsystem ins Wanken.
Was steht für die vida ganz oben auf der To-do-Liste? Lohnnebenkosten?
Die Dienstleistungsbranche soll 24/7 zur Verfügung stehen – und nichts kosten. Dieses vorherrschende Image wollen wir im Dienstleistungssektor versuchen zurechtzurücken. Lohnnebenkosten wiederum können nicht das Problem des ÖGB sein! Ein Beispiel: Arbeitnehmer haben sich nach dem 2. Weltkrieg im Rahmen der Lohnverhandlungen 0,5 Prozentpunkte unter dem Titel der Wohnungsbeihilfe seitens der Arbeitgeber erkauft. Mein Vorschlag: Da die Bundesländer diese von den Arbeitnehmern bezahlten Wohnbeihilfen großteils nur verspekulieren, streichen wir diese Beiträge umgehend – und schon wären die Lohnnebenkosten für die Arbeitgeber gesenkt!
Sie fordern damit aber nichts weniger als einen Abbau des Wohlfahrtsstaates…
Was wir fordern, ist allen voran eine Entflechtung des Wohlfahrtsstaates. Wieder ein Beispiel: Ein Debakel wie die Hypo Alpe-Adria haben nicht die Arbeitnehmer verursacht, bezahlen müssen sie es aber dennoch. Die Lohnsteuerleistung wird aufgrund der kalten Progression bis 2018 um 8 Mrd. Euro auf dann 32 Mrd. Euro anwachsen – sie können sich ausrechnen, was mit diesem Geld vorgesehen ist.
Würden Sie die Lohnsteuer nur für den sozialen Bereich reservieren?
Sozialabgaben sollen dort hin, wo sie hingehören! Umgekehrt: Sollen wir uns langfristig unser Flächensystem der Verwaltung noch leisten?
STAKKATO ZUR ZUKUNFT DER REINIGUNGSBRANCHE
1) FLEXIBLERES BERUFSBILD ERMÖGLICHEN? „Unbedingt! Alle Möglichkeiten der Weiterbildung sollten genutzt werden.“ Und: „Eine gewisse Entstaubung der Gewerbeordnung ist hier angebracht, ja.“
2) REINIGUNG ALS FREIES GEWERBE ZULASSEN? „Die Diskussion darüber ist im Gange, eine Entscheidung aber noch nicht getroffen.“
3) TAGREINIGUNG FORCIEREN? „Ein Wandel zur Tagesarbeitszeit ist wünschenswert und sollte im öffentlichen Bereich vorangetrieben werden.“
4) KÜNDIGUNGSABE VON 100 EURO/MITARBEITER ABSCHAFFEN? „Hier sollte man zunächst evaluieren, was es gebracht – aber auch, was es gekostet hat.“
5) BEHINDERTENAUSGLEICHSTAXE ADÄQUAT? „Gesellschaftspolitisch ist sie sinnvoll, aber eine Überarbeitung – klarer etwa zwischen Vollzeit- und Teilzeitkräften zu differenzieren – ist notwendig.“
6) MEHRSTUNDENZUSCHLAG VON 25 PROZENT BEI TEILZEIT SINNVOLL? „Ideal-er-weise gibt es dazu Betriebsvereinbarungen. Prinzipiell halte ich diese Lösung für gut – Mehrstunden können in den Unternehmen ja auch über Zeitkonten als Freizeit verrechnet werden.“
7) BEST- STATT BILLIGSBIETER? „Bestbieterprinzip ist klar zu befürworten, da es für längerfristige Vertragsbindungen am dienlichsten ist. Billigstbieter bringen häufig nicht die geforderte Qualität mit. Zudem fördert das Billigstbieterprinzip die Flucht in die Ich-AG.“