Hygieniker waren anfangs misstrauisch: Lässt das oberste Ziel der Desinfektion – die wirksame und rasche Abtötung von lebenden Zellen – ökologische Kriterien überhaupt zu? Mit der Wiener Desinfektionsmittel-Datenbank WIDES für professionelle Anwender, die europaweit genutzt wird, wurde diese Frage eindeutig mit ja beantwortet.
Text: Hansjörg Preims
Vor 15 Jahren hat die Stadt Wien das Programm „ÖkoKauf Wien“ mit dem Ziel initiiert, alle Dienstleistungen und Produkte nach ökologischen Kriterien zu beschaffen. Dazu wurden in mehr als zwei Dutzend Arbeitsgruppen ökologische Mindestkriterien und Auswahlinstrumente für die von der Stadt Wien zu beschaffenden Produktgruppen entwickelt. Eine dieser Arbeitsgruppen beschäftigt sich ausschließlich mit dem Thema „Desinfektion“. Sie wird von der Wiener Umweltanwaltschaft, namentlich von Dipl.-Ing. Marion Jaros, geleitet.
Reinigung aktuell: Frau Jaros, was macht Ihre Arbeitsgruppe Desinfektion konkret?
Jaros: Wir sind vor 15 Jahren angetreten, um zu prüfen, wie man Desinfektionsmaßnahmen möglichst umweltschonend gestalten kann. Da der Einsatz von Desinfektionsmitteln in vielen hygienischen Risikobereichen unverzichtbar ist, lag der Hauptschwerpunkt unserer Arbeit auf der gezielten Auswahl der unbedenklichsten Produkte.
Wer ist „wir“?
Wir, das sind neben Hygienefachleuten aus dem Wiener Krankenanstaltenverbund und der Österreichischen Gesellschaft für Hygiene, Mikrobiologie und Präventivmedizin, kurz ÖGHMP, vor allem Human- und Ökotoxikologen aus der AUVA, welche das Projekt auch kofinanziert, dem Technischen Büro Klade, dem VKI, dem Umweltbundesamt, etc. Letzteres hat auch in einer Studie gezeigt, dass einige, typische Desinfektionsmittel-Wirkstoffe in unseren Flüssen in Konzentrationen vorkommen, bei denen Umweltschäden nicht ausgeschlossen werden können. Auch die Hersteller haben Produktdaten sowie teilweise sehr wertvolle fachliche Inputs geliefert.
Und was genau wurde von Ihrem Team bewertet?
Desinfektionsmittel wurden entwickelt, um Keime, und damit lebende Zellen, rasch abzutöten. Da sind neben negativen Auswirkungen auf Wasserorganismen nach der Entsorgung der Anwendungslösungen auch gesundheitliche Risiken für die AnwenderInnen nicht ausgeschlossen. Es war deshalb schnell klar, dass wir arbeitsschutz- und umweltrelevante Eigenschaften der Produkte gemeinsam berücksichtigen müssen, um Mensch und Umwelt gleichermaßen zu schützen.
Und wie sind Sie vorgegangen?
Wir evaluierten den Einsatz von Desinfektionsmaßnahmen in den Spitälern, Pflegeheimen, Bädern und Kindergärten der Stadt Wien und haben als Orientierungs- und Bewertungshilfe für diese Desinfektionsmittel-Anwender die Wiener Desinfektionsmittel-Datenbank, kurz WIDES-Datenbank, entwickelt. Diese kann inzwischen unter www.wides.at von jedermann kostenlos genutzt werden.
Sind ökologischen Kriterien bei Desinfektionsmitteln nicht sehr enge Grenzen gesetzt, weil an oberster Stelle immer die Wirksamkeit stehen muss?
Genau deshalb standen unsere Hygiene-ExpertInnen diesem Vorhaben anfangs eher skeptisch gegenüber. Sie wandten ein, dass es bei der Desinfektion schließlich um den Schutz von Menschenleben ginge, weshalb die wirksamsten und nicht etwa die umweltfreundlichsten Mittel verwendet werden müssten. Dieser Einwand ging davon aus, dass die wirksamsten Produkte womöglich gleichzeitig die umweltschädlichsten sein würden. Das erwies sich im Laufe der Arbeit als Irrtum. Aber fürs Erste hielten wir diesem Argument gesetzliche Vorschriften entgegen. So muss die Stadt Wien gemäß dem Wiener Abfallwirtschaftsgesetz vorrangig jene Produkte am Markt einkaufen, welche einen möglichst geringen Umweltschaden verursachen. Das Wiener Bedienstetenschutzgesetz schreibt vor, dass Risiken durch gefährliche Arbeitsstoffe evaluiert und gesundheitliche Risiken für die AnwenderInnen minimiert werden müssen. Speziell Reinigungskräfte sind ja oft über viele Jahre den immer gleichen Stoffen ausgesetzt, und viele Desinfektionsmittel enthalten stark ätzende, giftige, allergieauslösende, teilweise sogar krebserregende Chemikalien. Inhaltsstoffe, die flüchtig sind, werden dabei natürlich auch eingeatmet. Über undichte Stellen in defekten Handschuhen kommt auch die Haut mit ätzenden oder allergieauslösenden Stoffen in Kontakt. Manche Reinigungskräfte reagieren auch auf Inhaltsstoffe in den Handschuhen allergisch und benutzen sie deshalb nicht regelmäßig.
Trotzdem hatte natürlich auch für uns in der Arbeitsgruppe die ausreichende Wirksamkeit eines Desinfektionsmittels gegenüber Krankheitserregern von Anfang an oberste Priorität. Dies stellen wir sicher, indem wir für jedes Produkt, das wir bewerten, einen unabhängigen Nachweis der Wirksamkeit verlangen – z.B. durch Zertifizierungen von Hygienegesellschaften wie der schon oben erwähnten ÖGHMP oder den deutschen Verbund für Angewandte Hygiene (VAH). Die Kriterien, die dort verlangt werden, fordern wir auch für die Produkte in unserer Desinfektionsmittel-Datenbank. Das war also das erste. Dann haben wir versucht, die am Markt erhältlichen Produkte, deren ausreichende Wirksamkeit für den jeweiligen Anwendungsbereich unabhängig geprüft und geklärt ist, anhand ihrer Sicherheitsdatenblätter hinsichtlich ihrer gefährlichen Eigenschaften zu bewerten und zu vergleichen. Das ist aber gerade in der Flächendesinfektion nicht einfach, weil viele Produkte als Konzentrate verkauft werden. Diese werden in der Anwendung dann teilweise sehr unterschiedlich verdünnt. Und schon Paracelsus wusste, dass es die Dosis ist, die das Gift macht. Es geht aus ökologischer Sicht also nicht nur darum, dass die Inhaltsstoffe an sich möglichst wenig gefährliche Eigenschaften aufweisen, also z.B. möglichst wenig umweltgiftig sind, sondern auch darum, von den Stoffen, die verwendet werden, eine möglichst geringe Konzentration einzusetzen. Und – „ökologisch“ bedeutet natürlich auch, Ressourcen einzusparen. Wenn man ein Desinfektionsmittel verwenden kann, das auch in hoher Verdünnung wirksam ist, hat man natürlich auch weniger Verpackung und weniger zu transportierende Mengen.
Um die Anwendungslösungen in ihrer tatsächlichen Konzentration, mit der sie auf eine Fläche aufgebracht werden, zu vergleichen, sind Sie also allein mit dem, was auf den Sicherheitsdatenblättern bezüglich gefährlicher Eigenschaften für das Konzentrat angegeben ist, nicht weitergekommen?
Nein, denn nur die Konzentrate zu vergleichen, wenn sie dann unterschiedlich verdünnt werden, wäre kein fairer und praxistauglicher Vergleich. Deshalb haben wir eben unsere WIDES-Datenbank entwickelt. Dazu haben wir erstens für sämtliche Inhaltsstoffe, die in den Produkten enthalten sind, eine unabhängige Recherche durchgeführt. Und wir haben nicht nur geprüft, was ein Hersteller zu einem bestimmten Stoff bezüglich dessen Gefährlichkeit angibt, sondern haben auch in mühevoller Kleinarbeit recherchiert, welche Testergebnisse es in anderen Datenbanken gibt. Dabei stellte sich immer wieder einmal heraus, dass ein Stoff gefährlicher ist, als die momentane Mindesteinstufung durch den Gesetzgeber wiedergibt. Diese Recherche haben wir für alle Wirkstoffe und Inhaltsstoffe, die in den verschiedenen Sicherheitsdatenblättern mit gefährlichen Eigenschaften ausgewiesen sind, durchgeführt. Das sind inzwischen weit über 200 Stoffe, die in der WIDES in sechs verschiedenen Kategorien bewertet wurden. Diese Bewertung aktualisieren wir jährlich.
Gibt es für alle enthaltenen Stoffe genügend Testdaten für eine Bewertung?
Anfangs gab es sehr viele Datenlücken, gerade bei den besonders gefährlichen, z.B. krebserregenden Eigenschaften. Wir markieren diese Datenlücken auch in unserer Datenbank mit Fragezeichen. Inzwischen konnten aber viele Datenlücken geschlossen werden. Denn die sogenannte REACH-Verordnung der EU verpflichtet alle Hersteller dazu, Registrierungsdossiers mit Testdaten zu den von ihnen produzierten Chemikalien einzureichen. Die Zusammenfassungen werden von der Chemikalienbehörde ECHA publiziert. Und es gibt auch das Biozid-Recht der EU, das für alle eingesetzten bioziden Wirkstoffe eine Notifizierung verlangt. Auch hier müssen von den Herstellern sehr viele Daten geliefert werden. Das ist zwar noch im Laufen, aber wir sehen schon, dass die Datenqualität zur Gefährlichkeit von Inhaltsstoffen deutlich besser geworden ist. Alle diese Stoffdaten haben wir in unsere Datenbank eingetragen, hinterlegt mit einem Rechenmodell, welches berücksichtigt, wie viel von diesen Stoffen in der Anwendungslösung enthalten ist, mit denen Reinigungskräfte tagtäglich arbeiten und unsere Kläranlagen und Flüsse belastet werden. Aufgrund unseres Rechenmodells können wir marktübliche Produkte in der WIDES-Datenbank nun jeweils anwendungsgruppenspezifisch bezüglich ihrer Human- und Ökotoxizität vergleichen.
Und haben sich große Unterschiede gezeigt?
Anfangs war auch für uns die spannende Frage, ob es hier wirklich nennenswerte Unterschiede geben wird. Oder ob letztlich alle Produkte, weil sie zelltoxisch sind, ähnlich umweltgefährlich und gesundheitsschädlich sind. Aber überraschender Weise zeigten sich – je nach den verwendeten Wirkstoffgruppen – doch deutliche Unterschiede.
Unterschiede von Hersteller zu Hersteller?
Nicht unbedingt. Viele große Hersteller, die europaweit tätig sind, bieten für die Flächendesinfektion eine breite Produktpalette mit verschiedensten Wirkstoffkombinationen an.
Und was empfehlen Sie nun und was nicht?
Für konkrete Aussagen muss man selbst einen Blick in die WIDES-Datenbank werfen. Allgemein sehen wir aber, dass z.B. Aldehyde stark allergene Eigenschaften aufweisen. Glutaraldehyd ist auch atemwegssensibilisierend. Aldehyde sind zudem eher flüchtige Stoffe, was man auch am typischen Geruch merkt. Das ist insofern schade, als sie eine breite und rasche Wirksamkeit aufweisen und nur wenig umweltschädlich sind. Sie waren lange Zeit auch in ökologisch orientierten Krankenhäusern DIE Stoffe der Wahl. Nicht zuletzt durch die Ergebnisse unserer Bewertung hat sich die Stadt Wien deshalb von Produkten auf Aldehyd-Basis weitestgehend verabschiedet. Formaldehyd stand zudem neben seinen schleimhautreizenden und sensibilisierenden Eigenschaften schon lange unter dem Verdacht, krebserregend zu sein, insbesondere nasopharyngeale Tumore zu erzeugen. Jetzt ist daraus offensichtlich Gewissheit geworden, denn Formaldehyd ist mit dem Hazard-Statement H350 „Kann Krebs erzeugen“ eingestuft worden. Somit gilt für diesen Stoff in Kürze nach dem Arbeitsschutzrecht ein Substitutionsgebot. Produkte auf Aldehyd-Basis werden zwar noch am Markt angeboten, man kann sie für die routinemäßige Flächendesinfektion aber nicht mehr empfehlen.
Welche Wirkstoffgruppe empfehlen Sie dann?
Aus unserer Sicht bieten Produkte auf der Basis von sogenannten Sauerstoffabspaltern die meisten Vorteile. Sie haben ein erstaunlich breites Wirkungsspektrum, welches bei einigen Produkten auch eine sporozide Wirkung mit einschließt. Sie können zu akuten Verätzungen der Haut führen, verursachen aber keine Allergien oder chronische Erkrankungen und sie belasten die Umwelt nur geringfügig.
Haben sie dennoch auch Nachteile?
Laut unseren HygieneexpertInnen bedarf die praktische Handhabung von Sauerstoffabspaltern im Klinikalltag eines höheren Kenntnisstandes und einer gut durchdachten Logistik. Man muss also das Personal besser einschulen. Probleme können sich durch die geringere Lagerungsstabilität und die korrosiven Eigenschaften ergeben. Das schränkt die Materialverträglichkeit bei Dosiersystemen sowie für Marmorböden und gewachste Bodenbeläge ein. Einige Firmen sind hier aber mit Innovationen auf den Markt gekommen, die wir gerade prüfen.
Früher wurden Sauerstoffabspalter hauptsächlich im Sanitärbereich eingesetzt. Aufgrund des vermehrten Auftretens von multiresistenten Krankenhauskeimen ist ein breites Wirkungsspektrum aber immer wichtiger geworden und Sauerstoffabspalter liegen deshalb im Trend. Das ist uns auch aus ökologischer Sicht sehr recht. Hier sehe ich also ein Zukunftsfeld, wo man sowohl eine breite Wirksamkeit als auch Arbeitsschutz- und Umweltschutzkriterien miteinander verbinden kann.
Was wäre eine Alternative zu Sauerstoffabspaltern?
Wo man Sauerstoffabspalter, z.B. aufgrund der nötigen Materialverträglichkeit nicht verwenden kann, schneiden Produkte auf der Basis von quaternären Ammoniumverbindungen, sog. QAV, in der Gesamtbewertung relativ gut ab. Diese haben aber Wirkungslücken, z.B. bei gram-negativen Bakterien. Deshalb werden sie oft mit anderen Wirkstoffen kombiniert, um diese Wirkungslücken auszugleichen. Diese Zusätze sind nicht selten umweltgiftig und zugleich biologisch schlecht abbaubar. Es ist zudem so, dass durch die neuen, harmonisierten Einstufungsregeln im Umweltbereich zusätzlich so genannte Multiplikationsfaktoren bezüglich der aquatischen Toxizität Berücksichtigung finden. Wir sind gerade dabei, diese in die Datenbank einzuarbeiten. Dabei zeigt sich, dass QAV teilweise schon in geringsten Konzentrationen giftig für Wasserorganismen sind. Wie sich das auf unsere Bewertungen im Detail auswirken wird, wissen wir aber erst in einigen Wochen.
Wenn man in der Desinfektion auch Umweltaspekte berücksichtigen will – wie soll man da jetzt konkret vorgehen?
Überall dort, wo es fachlich und preislich möglich ist, sollte man Produkte auf Basis von Sauerstoffabspaltern präferieren und gleichzeitig das Personal bestmöglich auf ihre Anwendung einschulen. Wo Alternativen benötigt werden, kann man sich in unserer Desinfektionsmittel-Datenbank kundig machen, welche anderen Produkte jeweils geeignet sind und aus der Sicht von Arbeits- und Umweltschutz gut abschneiden. Da immer auch die Konzentration der Stoffe eine Rolle spielt, sind allgemeine Empfehlungen für konkrete, weitere Stoffgruppen schwierig. Auf jeden Fall kann man anhand der WIDES-Datenbank Produkte, die besonders gefährliche Eigenschaften aufweisen, ausscheiden. Die WIDES-Datenbank ist weltweit ein einzigartiges Instrument, welches auch von der WHO empfohlen wird. Wir haben sie deshalb auch ins Englische übersetzt und unsere internationalen Partner bewerben ihre Nutzung auf allen Kontinenten. Das sehen wir auch in der Zugriffs-Statistik mit Usern in fast ganz Europa sowie regelmäßigen Zugriffen aus Kanada, Indien, den Seychellen, Russland etc.
Was ist – abgesehen vom Arbeitsschutz – grundsätzlich bei der Anwendung von Desinfektionsmitteln zu beachten?
Prinzipiell ist darauf zu achten, dass verdünnte Anwendungslösungen möglichst vollständig verbraucht werden. Desinfektionsmittelkonzentrate sollten zudem RECHTZEITIG verbraucht werden. Insbesondere manche Sauerstoffabspalter haben eine begrenzte Haltbarkeit, auf die zu achten ist. Reste von Desinfektionsmittelkonzentraten müssen als gefährlicher Abfall mit der Schlüsselnummer 53507 (Desinfektionsmittel) mittels Begleitschein entsorgt werden. Im Wiener Krankenanstaltenverbund dürfen – abgesehen von kleinen Restmengen – auch Gebrauchslösungen mit mehr als 2 Masseprozent nicht in den Abguss geleert werden.
Wie stehen die Hersteller zur Arbeit des Arbeitskreises Desinfektion bzw. zu Ihrer Datenbank?
Die Reaktion der Desinfektionsmittel-Hersteller war anfangs geteilt. Die Marketing-Abteilungen waren naturgemäß nicht so glücklich darüber, dass wir gerade die gefährlichen Eigenschaften ihrer Produkte transparent und vergleichbar darstellen. Die Leiter der jeweiligen Entwicklungs-Abteilungen aber haben unser Bewertungssystem in diversen Workshops sehr ernsthaft mit uns durchdiskutiert und uns auch gute Ezzes gegeben. Sie begriffen die Datenbank als Instrument, welches sie bei der Entwicklung von neuen Produkten unterstützen kann, um diese hinsichtlich des Arbeits- und Umweltschutzes zu verbessern. Inzwischen melden sich auch regelmäßig Firmen und wollen Produkte in die Datenbank integrieren lassen.
Dies könnte aber auch daran liegen, dass EinkäuferInnen das von den Unternehmen verlangen. Die Verwendung der WIDES ist zum Beispiel auch verpflichtend für Tourismusbetriebe mit dem Österreichischen Umweltzeichen.
Frau Jaros, danke für das Gespräch!