AdobeStock_273103712

„Wir haben Fehler im System“

Markus Mattersberger, Präsident „Lebenswelt Heim – Bundesverband“, darüber, was es im Gesundheits- und Pflegesystem neu zu überdenken gilt.

Text: Hansjörg Preims

Markus Mattersberger
Markus Mattersberger

Unbestritten ist für Experten, dass im Gesundheits- und im Pflegesystem einiges neu zu überdenken ist. Was am dringlichsten? „Die gesamte Personalsituation“, sagt Markus Mattersberger, Präsident „Lebenswelt Heim – Bundesverband“. „Es wird permanent von einer Pflegereform gesprochen, wobei in diesem Zusammenhang zum einen die Forderung erhoben werden muss, mehr Personal auszubilden, denn wir bilden derzeit weniger aus, als wir bräuchten. Zum anderen gilt es, den Pflegeberuf attraktiver zu machen.“ Da stelle sich dann aber die Frage: „Was passiert, wenn man entsprechend Personal ausbildet, wohin kommt es? Deswegen auch meine Forderung, erstens gesamthaft den Gesundheits- und Pflegebereich zu betrachten. Denn wir haben in Österreich im Gegensatz zu vielen anderen Ländern, vor allem zu den skandinavischen Vorzeigeländern, einen sehr stark ausgebauten akutstationären Bereich, der zum einen natürlich viel Geld braucht, um aufrechterhalten zu werden, zum anderen aber auch sehr viel Personal.“ Und wenn man entsprechend viel Personal ausbilde – wenn man das schaffen würde –, dann sauge natürlich dieser akutstationäre Bereich sehr viel Personal ab, und der Langzeitpflegebereich, der aufgrund der demografischen Entwicklung zunehmend gefordert ist, mehr Leistungen anzubieten, bleibe irgendwie auf der Strecke“, erklärt Mattersberger.
Die skandinavischen Länder hätten eher ein umgekehrtes System. Dort gebe es einen eher kleinen flexiblen, aber sehr starken und effizienten akutstationären Bereich, einen gut ausgebauten medizinischen Niedergelassenen-Bereich und parallel dazu eben eine gute Struktur für die Langzeitpflege bzw. die Betreuung älterer Menschen zu Hause, solange sie dort bleiben möchten, und dann Langzeitpflege. Bei uns dagegen, so Mattersberger, sei die kostenintensivste Struktur am größten ausgebaut: „Wenn wir also eine Pflegereform angehen wollen, also nur für diesen verhältnismäßig zart ausgebauten Bereich der Langzeitpflege, steht uns schlicht und einfach deutlich zu wenig Manövriermasse zur Verfügung. Wir werden aus diesen Mitteln, die uns im Pflegebereich zur Verfügung stehen, keine vernünftige Reform aufbauen können. Wir müssen vielmehr das Gesamtsystem – „Gesundheits- und Pflegesystem“ – betrachten, und da investiert Österreich wirklich sehr viel Geld.“ Im EU-Vergleich investiere nur Deutschland pro Kopf mehr ins Gesundheits- und Pflegesystem als Österreich. Aber der Großteil davon gehe eben in den akutstationären Bereich.

Zu wenig Geld

„Für uns als Gesellschaft“, so Mattersberger, „ist es sehr wertvoll und wichtig, uns zu überlegen, wie eine entsprechende Struktur für die Zukunft so aufgebaut sein sollte, dass sie nachhaltig gut finanzierbar ist – bei gleicher Leistung und gleich hoher Qualität.“ Der Bundesrechnungshof habe ja wiederholt auf Einsparungspotenzial im akutstationären Bereich in der Größenordnung von 4,5 Milliarden pro Jahr hingewiesen – ohne Qualitätsverlust. „Und wir wurden immer wieder von der OECD und auch von der WHO darauf hingewiesen, dass Österreich zu den Ländern mit der höchsten Dichte an akutstationären Betten zählt, zu den Ländern mit der höchsten Entlassungsrate auf den Kliniken, zu den Ländern mit der höchsten Anzahl von vermeidbaren Krankenhausaufenthalten.“ Wir hätten hier „einfach gewisse Fehler im System“, sprich: es werde einem sehr leicht gemacht, einfach in ein Klinikum zu gehen und sich dort behandeln zu lassen. Für ihn, Mattersberger, als Mitglied der österreichischen Gesellschaft sei das natürlich hervorragend, aber es koste uns eben auch irrsinnig viel Geld. Und dadurch bleibe uns für andere Strukturen, wo wir es dringend brauchen würden, zu wenig Geld übrig. Daher seine Forderung, „das Gesundheits- und Pflegesystem gesamtheitlich gut aufzustellen, ohne Leistungen einzuschränken bzw. so, dass Leistungen so erbracht werden, dass es effizient ist, dass aber auch für andere Bereiche noch entsprechende Ressourcen zur Verfügung stehen.“

Es braucht deutlich mehr Angebote

Zum Pflegebereich an sich: In Österreich wird für den Großteil der Menschen, sobald sie Unterstützungsbedarf haben, diese Betreuung zu Hause von den Angehörigen geleistet, sofern diese zur Verfügung stehen. Wenn das irgendwann nicht mehr geht, bieten professionelle mobile Dienste Unterstützung an, oft auch noch im Zusammenspiel mit den Angehörigen. Solange dies möglich ist, bleiben die zu unterstützenden Menschen in der Regel zu Hause, großteils ohne, teilweise mit professioneller Unterstützung. Und wenn das nicht mehr geht, kommen ältere Menschen eben in ein Pflegeheim. Mattersberger: „Dazu gibt es auch eine – mittlerweile allerdings nicht mehr ganz neue – Studie vom Wirtschaftsforschungsinstitut, wo man festgestellt hat, dass gerade in Österreich diese Abstimmung innerhalb dieses Systems der Dreigliederung in Pflege zu Hause durch Angehörige – Unterstützung durch mobile Dienste oder alternativ 24-Stunden-Betreuung – Pflegeeinrichtung relativ gut funktioniert. Demnach kommen ältere Menschen bei uns erst dann in ein Pflegeheim, wenn sie zu Hause tatsächlich nicht mehr betreut werden können. Wobei man immer gesagt hat, maximal 10 Prozent, die in Pflegeeinrichtungen sind, könnten zu Hause betreut werden, wenn eine entsprechende Struktur zur Verfügung stünde, sprich: pflegende Angehörige oder mobile Dienste. Ohne diese Struktur würden diesen Menschen zu Hause eine soziale Verwahrlosung drohen.“
Auch das betreute Wohnen habe sich in Österreich schon etabliert, aber: „Hier brauchen wir“, so Mattersberger weiter, „noch deutlich mehr Angebote – Tagesstrukturen, wo die Menschen untertags hingehen, in Gesellschaft gut den Tag verbringen und am Abend wieder nach Hause gehen können. Oder zum Beispiel auch Mehr-Generationen-Wohnen. Wir werden uns jedenfalls überlegen müssen, welche verschiedenen Angebote ältere Menschen brauchen.“ Wobei dann viele sagen würden, sie kämen auch gut zurecht, wenn sie 3 – 4 Stunden am Tag eine Struktur für einen gemeinschaftlichen Aufenthalt und Austausch zur Verfügung hätten. Oder andere, denen es genügen würde, wenn 3 – 4 Mal am Tag zu Hause jemand vorbeischauen würde. Aber das seien eben genau die Herausforderungen, „wo wir auf diese Einbindung in ein soziales Umfeld schauen müssen, darauf, dass die Menschen eine Struktur vorfinden, die auch dazu animiert, die eigenen vier Wände auch mal zu verlassen, um soziale Kontakte pflegen zu können.“

kommentare

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

neueste beiträge